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»Archiv brutal« | Fuzzy Space | 19.05.2018 – 30.06.2018

Das Archiv schläft nie! Ruhelos akzeptiert es weder Zeit-, noch Raum-, noch Wachstumsgrenzen. (1) Absurderweise führen ausgerechnet Verfahren der Selektion im Zuge der Regulierung von Archivinhalten zu einem unkontrollierten Anwachsen des Archivkörpers:

 

»[…] Selektion ist eine der Hauptaufgaben von Archiven und Archivaren und mündet in die Kassation von Dokumenten, den sorgfältig dokumentierten Prozess der >Zerstörung< des Archivs selbst. Diese Kassation hat tatsächlich in erster Linie eine selektierende kulturökonomische Dimension, auch wenn ihr häufig ein interner archivökonomischer Zweck nachgesagt wird (sie produziert im Endeffekt quantitativ mehr Papier, als sie aussondert), d.h. sie ersetzt ein aus einem außerarchivarischen Raum stammendes und auf diesen Raum verweisendes ›Original‹ durch ein nach den internen Regeln der archivischen Beschreibung entstandenes Dokument.« (2)

 

Der beschriebene Vorgang dient somit vorrangig der lückenlosen Dokumentation interner Selektions- und Kassationsprozesse. Die verweisenden Dokumente geben Auskunft, warum ein Exponat zu welcher Zeit, von welchem Ort aus dem Archiv gelöscht wurde. Dieser alltägliche bürokratische Vorgang wirkt sich jedoch nachhaltig auf die Gesamtstruktur eines Archivs aus: Er führt zu einer ständigen Transformation seines Inhalts, seiner Form und seiner Struktur. Denn: Obwohl das Original in der Folge im Archiv fehlt, bleibt dennoch seine Existenz als »Schatten« im Archiv sichtbar: Wie der diffuse Rahmen um eine helle Wandstelle auf die Existenz eines entfernten Bildes verweist, so lassen die Protokolle des Löschvorgangs die entstandene Leerstelle im Archiv deutlich hervortreten. (3) (4)

 

Zudem wird anhand der aktualisierten Verweisstruktur das Original als »Spur« erneut in das Archiv eingeschrieben. Auf diese Weise bleibt es im Archivkörper zumindest als »Spurenelement« nachweisbar. (5) Und sollten die »nach internen Regeln« verfassten »archivische[n] Beschreibung[en]« selbst einer zukünftigen Selektion zum Opfer fallen, so erwachsen im selben Moment abermals Spuren- und Schatten-Dokumente, die diesen erneuten archivischen Selektions- und Transformationsprozess dokumentieren – um nachfolgend die Archivstruktur erneut zu erweitern. Zusammenfassend lässt sich festhalten: Ausgehend von einem (zu entfernenden) Original werden an unterschiedlichen Archivstellen mehrere, auf den Ursprung verweisende Dokumente an- und abgelegt, die jederzeit als Ursprungsdokumente Gegenstand einer weiteren Kassation sein können – da capo. Dieser sich fortwährend fortschreibende Prozess führt somit zwangsläufig zu einer stetigen Dynamisierung von Archivierungsprozessen und dem kontinuierlichen Anschwellen des Archivkörpers: »Beständiges strukturelles Wachstum durch Selektion zum Zwecke der Regulierung«, ist die paradoxe Zauberformel des Archivs. (6) Dieses »schöpferische« Prinzip ist in der Archiv-DNA fest verankert. Und der Satz: »Weniger ist mehr«, ist in diesem Zusammenhang wortwörtlich zu verstehen.

 

Das Kernstück der Ausstellung »Archiv brutal« bildet eine Sammlung aus 12 Architekturmodellen. Sie dienen als Impulse für die Planung eines »Archivs der archivarischen Praxis«. Die Modelle, bestehend aus grauen Reinigungsschwämmen aus dem Discountersortiment, erinnern mit ihren klaren geometrischen Formen und der orthogonalen Anordnung normierter Einzelelemente an die architektonische Tradition des »Brutalismus«. Die Sammlung verweist zudem auf eine entscheidende Leerstelle in aktuellen Archivdiskursen: Zwar kann die spezifische archivarische Praxis eines Archivs anhand seiner jeweiligen Arbeitsprozesse rekonstruiert werden, doch fehlen bisher konkrete Orte, um unterschiedliche archivarische Systeme zu erfassen und somit sichtbar und verhandelbar zu machen.

 

Ergänzt werden die Architekturentwürfe durch eine Auswahl von Fotografien aus einer Serie mit dem programmatischen Titel »Insomnia«. Die kontrastreichen Aufnahmen berichten von der chronischen Schlaflosigkeit des Archivars. Wie gesagt: Das Archiv schläft nie! Und so ist das nächtliche Umherschweifen des Archivars eine an die Arbeitsumstände angepasste Lebensform. Die Gespenster lassen grüßen. (7)

 

  1. Analog zu Mark Fishers Charakterisierung kapitalistischer Verwertungszusammenhänge lässt sich das »Archiv« auch als »eine monströse, unendlich formbare Entität« beschreiben, »die fähig ist, alles zu absorbieren und zu verdauen, mit dem sie in Kontakt kommt.« (Vgl.: Fisher, Mark (2013): Kapitalistischer Realismus ohne Alternative? Hamburg: VSA. S. 12.)
  2. Scharf, Julia (2006): Das Archiv ist die Kunst. Verfahren der textuellen Selbstreproduktion im Moskauer Konzeptualismus. Bremen: Forschungsstelle Osteuropa Bremen Arbeitspapiere und Materialien. S. 13.
  3. Häufig dient das Archiv in literarischen Erzählungen als düsterer Topos, in dem sich die Grenzen zwischen Vergangenheit und Zukunft, Wirklichkeit und Abbild, Wahrheit und Existenz zunehmend auflösen. So gilt das Archiv seit jeher auch als idealer »Lebens«/-raum für Geister, Schattenwesen, Phantome und Untote. »Das Gespenstische betrifft […] Fragen, die mit Existenz und Nichtexistenz zu tun haben: ›Warum ist hier etwas, obwohl da nichts sein sollte? Warum ist da nichts, obwohl da etwas sein sollte?‹ [Kursiv im Original.] Die blinden Augen der Toten; der verwirrte Blick dessen, der sein Gedächtnis verloren hat – all dies ruft das Gefühl des Gespenstischen hervor […].« (Fisher, Mark (2017): Das Seltsame und das Gespenstische. Berlin: Edition Tiamat. S. 13.)
  4. Jacques Derrida etablierte in seinem Essay »Marx‘ Gespenster« den Begriff der »Hauntology« als Antwort auf die These vom »Ende der Geschichte« (Francis Fukuyama). Der Neologismus beschreibt das Phänomen, dass Ideen, Theorien und Ideologien aus der Vergangenheit, selbst bei ihrem Scheitern in der Praxis noch in den Denkgebäuden der Gegenwart (z.B. in Archiven) präsent sind. Auf diese Weise prägen sie weiterhin die Gesellschaftsdiskurse der Gegenwart und beeinflussen unterschwellig kollektive Zukunftsvorstellungen. (Vgl.: Derrida, Jacques (2003): Marx‘ Gespenster – Der verschuldete Staat, die Trauerarbeit und die neue Internationale. Frankfurt am Main: Suhrkamp.)
  5. Prinzipiell ist zwischen archiviertem Inhalt und der seiner Erschließung dienenden Archivstruktur zu unterscheiden. Die systematische Erschließung umfasst das Ordnen und Verzeichnen von Archivgut. Ziel der Erschließung mittels Findmittel ist, Archivalien zu identifizieren und auffindbar zu machen. Damit ist die Erschließung eine entscheidende Voraussetzung für die Benutzbarkeit eines Archivs. Nicht selten verwandeln sich jedoch (bürokratische) Verzeichnisstrukturen selbst zum originären Archivgut. Insbesondere bei der Übernahme von Archiven durch übergeordnete Archiv-Institutionen gerät die Registratur selbst in den Fokus einer Erschließung. So geben gerade archivarische Verzeichnisse weitreichend Aufschluss über zeithistorische soziale, politische, kulturelle Perspektiven auf archivarische Themenfelder. In diesem Fall ändert sich der Status der peripheren Dokumente: Aus einem Dokumenten, das »nach internen Regeln der archivischen Beschreibung« verfasst wurden, wird ein »aus dem außerarchivarischen Raum stammendes und auf diesen Raum verweisendes ›Original‹«, das als Ursprungszeugnis in das »semantische Netz« des Archivs eingewebt wird.
  6. »Es scheint als wäre die Bürokratie eine Art Rückkehr des Verdrängten, die ironischerweise im Herzen eines Systems wieder auftritt, das eigentlich dazu angetreten ist, sie zu zerstören. Aber das Wiederauferstehen der Bürokratie im Neoliberalismus ist kein Atavismus oder bloß eine Anomalie.« (Fisher, Mark (2013): Kapitalistischer Realismus ohne Alternative? Hamburg: VSA. S. 50.)
  7. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass der Archivbegriff in sozial- und kulturwissenschaftlichen Diskursen in den letzten Jahren eine grundlegende Erweiterung erfahren hat, wird deutlich, dass sich das »Archiv« auch als deskriptives Modell für unterschiedlichste gesellschaftliche Entwicklungen etabliert hat. So wird der Archivbegriff zunehmend als facettenreiche Metapher zur Beschreibung vielfältiger sozialer Phänomene verwendet: Das World-Wide-Web als Archiv, die Stadt als Archiv, der Staat/-sapparat als Archiv …. Der oben beschriebene Akt der Transformation durch »Selbstkannibalisierung« und ein damit einhergehender chronischer Erschöpfungszustand sind keine exklusiv archivarischen Phänomene, sondern lassen sich vor allem auch in globalen ökonomischen Zusammenhängen beobachten. Somit verweist die Fotoserie »Insomnia« auch auf Parallelen zwischen schlafloser archivarischer Praxis und chronischen Erschöpfungserscheinungen in einer postfordistisch geprägten (seelenlosen) Verwertungs- und Verwaltungsökonomie. (Vgl.: Fisher, Mark (2013): Kapitalistischer Realismus ohne Alternative? Hamburg: VSA. S. 12.)

 

Christof Salzmann | Herausgeber Fuzzy Space | 2018

 

»Archiv brutal« | Fuzzy Space | 19.05. – 30.06.2018

 

Fotografien © Christof Salzmann (2018)
Text: © Christof Salzmann (2018)

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