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»Das Archiv bin ich« | Kunstverein Friedrichshafen | 24.04.2015 – 28.06.2015

Wer ein Archiv anlegt, baut eine Welt.

 

Früher hätte man diesen Satz erklären müssen, aber heute versteht ihn jeder: Das Internet ist schließlich ein Datenbank-Verhau, durch den Suchmaschinen den Weg bahnen. Und wo ein solcher Weg gebahnt werden muss, liegt ein Phänomen vor, das ähnlich wie die Welt funktioniert, denn es gibt darauf so viele Perspektiven, wie es Wege gibt. Das wirft eine Frage auf: Wie viel Ordnung herrscht eigentlich in einem Archiv?

 

Im Fall des Archivs von Christof Salzmann fällt die Antwort schwer. Der Künstler hat zwar das komplette Archiv, in dem er seine Kunst archiviert, in den Kunstverein Friedrichshafen verfrachtet – aber der Computer ist runtergefahren und von den unzähligen Aktenordnern im Schrank ist jeder einzelne in einer Papphülle verschlossen. Wer sie öffnet, kommt sich wie ein Einbrecher vor. Salzmann stellt denn auch klar, dass er seine Unterlagen am liebsten weiterhin verschlossen sähe. Damit ist freilich nur einer Sache Tür und Tor geöffnet: der Spekulation. Als Besucher bahnt man sich durch diesen verschlossenen Wissensspeicher mit jeder Frage, die man an ihn hat, einen neuen Weg – ganz ohne zu wissen, was sich in ihm befindet.

 

»Das Archiv bin ich«, nennt Salzmann seine Präsentation, in der das Archiv zum schweigenden Kunstwerk wird. Das Schweigen macht Sinn: Zum einen, weil ein Kunstwerk seinen Sinn nicht als Schlagwortkatalog ausplaudert. Zum anderen, weil in Zeiten der heimlichen Datensammelei für wenige Insider Archive aufgebaut werden, die für alle Outsider lediglich Fragen aufwerfen. Einige grundsätzliche Frage, die man an Archive stellen kann, formuliert Christof Salzmann selbst: Kann die Gesellschaft ohne Archive überdauern? Welche Perspektiven ergeben sich aus dem Verlust eines Archivs? Was bedeutet Archivierung für die Zukunft? Sind Archive gesellschaftliche Kontrollinstrumente? Grätschen wir mal bei dieser Frage ein: Haben Archive eine Kontrollfunktion? Ja, könnte man sagen – denn wer die Entscheidungsmacht darüber hat, welche Informationen in einem Archiv gesammelt werden, entscheidet nicht nur über die Wissensgrundlage einer Gesellschaft, sondern er bahnt durch die Informationsselektion auch die möglichen Fragen vor, die in den Köpfen ihrer Nutzer entstehen können. Der Mensch wird so zum Suchalgorithmus, der vom Archiv programmiert wurde – ohne dass er es bemerkt. […]

 

Man gewinnt den Eindruck, dass Christof Salzmann sein Archiv nicht aufgebaut hat, um Antworten zu geben, sondern um Fragen zu stellen. Natürlich hat er es zunächst angelegt, um den Überblick über seine eigene Kunstproduktion nicht zu verlieren. Aber dann habe er gemerkt, sagt er, dass das Archivieren selbst interessanter sei als das eigentliche Kunstschaffen – so wurde eben das Archiv zum künstlerischen Projekt. Und obwohl ein Archiv der Vereinfachung dient, wird es mit der Zeit immer komplexer. So komplex, dass Salzmann sich gezwungen sah, wiederum ein Archiv seines Archivs anzulegen. Entfernt sich das Archiv also zunehmend von den dokumentierten Dingen? Wird seine wuchernde Eigenstruktur immer dominanter?

 

Salzmann verfolgt hier keine Einbahnstraße: Zum einen, sagt er, mache er neue künstlerische Arbeiten manchmal nur, um sie dem Archiv einverleiben zu können. In einer Gegenbewegung greife er für neue Arbeiten aber auch auf die Inhalte des Archivs zurück. Kunst und Archiv durchdringen einander so und werden eine hybride Einheit.

 

Südkurier | Friedrichshafen | Ruppert, Harald | Kunstarchiv und Archivkunst | 29.04.2015

 

»Das Archiv bin ich« | Kunstverein Friedrichshafen | 24.04.2015 – 28.06.2015

 

Fotografien: © Jean-Marc Delettre (2015)
Text: © Harald Ruppert (2015)

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